Kognitive Beeinträchtigungen bei Zwangserkrankungen
Anne Külz | Psychiatrische Universitätsklinik Freiburg i. Br | 24.10.2005
Kognitive Beeinträchtigungen bei Zwangserkrankungen
Habe ich die Tür tatsächlich abgeschlossen? Kann ich sicher sein, dass ich vorhin im Gespräch nichts Falsches erzählt habe? Habe ich wirklich niemanden im Straßenverkehr gefährdet?
Da Menschen mit Zwangserkrankungen in zwangsauslösenden Situationen häufig an der eigenen Wahrnehmung zweifeln oder wenig Vertrauen in ihre Erinnerungsfähigkeit haben, liegt die Vermutung nahe, dass Zwangserkrankungen mit allgemeinen Gedächtnisbeeinträchtigungen einhergehen. Tatsächlich aber scheint sich die Merkfähigkeit für Ereignisse bei Zwangserkrankten nicht wesentlich von der Merkfähigkeit Gesunder zu unterscheiden. Neueren Untersuchungen zufolge berichten auch nur wenige Zwangserkrankte generelle Gedächtnisprobleme. Selbst dann, wenn sie unter Kontrollzwängen leiden, besitzen Patienten mit Zwangsstörung ein geringes Vertrauen in die eigene Gedächtnisleistung zumeist nur dort, wo übergeordnete Themen wie etwa Verantwortlichkeit oder Schuld eine Rolle spielen. Die lange Zeit diskutierte Gedächtnis- Defizit-Hypothese, der zufolge Zwänge aus einer tatsächlich oder vermeintlich verminderten allgemeinen Gedächtnisleistung resultierten, gilt daher heute im Wesentlichen als entkräftet.
Neuropsychologische Kennzeichen von Zwangserkrankungen
Gleichzeitig wissen wir aus Studien mit bildgebenden Verfahren, dass der Gehirnstoffwechsel bei Zwangserkrankungen leicht verändert ist. Insbesondere hat man bei Patienten mit Zwangserkrankung einen erhöhten Glukose-Stoffwechsel in der Erregungsschleife zwischen Vorderhirn und den Basalganglien, einer Struktur im Zentrum des Gehirns, gefunden.
Ausgehend von dieser Entdeckung ging man in den vergangenen Jahren vielfach der spannenden Frage nach, ob sich diese Stoffwechselveränderungen auch in einer veränderten geistigen Leistungsfähigkeit äußern.
In einer Reihe von Studien der letzten Jahre konnte gezeigt werden, dass Zwangsstörungen in vielen Fällen tatsächlich mit einer verminderten Fähigkeit einhergehen, Informationen zu strukturieren oder bildhafte Wissensinhalte wiederzugeben. In einigen Untersuchungen wurde Patienten beispielsweise eine komplizierte Figur gezeigt mit der Aufgabe, diese abzuzeichnen (s. Abbildung rechts oben).
Sollte die Figur unmittelbar danach spontan aus der Erinnerung auf Papier wiedergegeben werden, hatten viele Patienten deutlich mehr Probleme als gesunde Testpersonen. Schon beim Abzeichnen wurde deutlich, dass sich die Patienten oft an Einzelheiten „verzettelten“ und die Hauptbestandteile der Figur nicht erfassten, was das Einprägen erschwerte. Nicht selten geben Menschen mit Zwangserkrankungen tatsächlich an, sich komplexe Informationen nicht gut einprägen zu können, weil sie sich zu sehr auf Details konzentrieren oder, sprichwörtlich gesagt, „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“.
Ebenso scheint es Patienten mit Zwangserkrankung z.B. etwas schwerer zu fallen, sich flexibel auf wechselnde Anforderungen einzustellen. Dies wird beispielsweise mit Aufgaben erfasst, bei denen Personen zunächst mehrere Male auf einen bestimmten Reiz reagieren müssen und sich dann auf einen neuen Reiz als Reaktionssignal einstellen müssen.
Die festgestellten Auffälligkeiten sind allerdings in den seltensten Fällen so stark ausgeprägt, dass eine erhebliche Alltagsbeeinträchtigung für den einzelnen vorliegt. Deutlich sind die Defizite häufig dann zu erkennen, wenn man den Leistungsdurchschnittswert einer Gruppe von Zwangspatienten demjenigen einer Gruppe von Gesunden gegenüberstellt.
Das Gedächtnis für sprachliche Informationen sowie die allgemeine Intelligenz sind dagegen neueren Untersuchungen zufolge unbeeinträchtigt. Auch die Fähigkeit, logische Probleme zu lösen oder die Aufmerksamkeit nur auf einen bestimmten Reiz zu richten, wich nur in wenigen Untersuchungen von der Fähigkeit gesunder Testpersonen ab.
Besserung durch Behandlung?
Was passiert nun, wenn die Zwangssymptomatik im Laufe therapeutischer Behandlung abnimmt? Ähnlich wie man eine Normalisierung des Gehirnstoffwechsels durch erfolgreiche Psychotherapie oder medikamentöse Behandlung gefunden hat, gibt es erste Hinweise darauf, dass sich auch die geistige Leistungsfähigkeit wieder der von Gesunden angleicht. In einer kürzlich abgeschlossenen Studie konnten wir zeigen, dass sich die Testwerte von Zwangerkrankten und Gesunden nach stationärer Verhaltenstherapie in keinem der untersuchten Leistungsbereiche mehr in statistisch bedeutsamem Ausmaß unterschieden. Dabei spielte es keine Rolle, wie lange die Patienten zum Zeitpunkt der Behandlung bereits erkrankt waren oder ob sie zusätzlich medikamentös behandelt wurden.
Vor der zwölfwöchigen Verhaltenstherapie hatten die Patienten in den meisten der untersuchten Leistungsbereiche deutlich schlechter abgeschnitten als die Gruppe aus gesunden Probanden. Alle teilnehmenden Patienten hatten sich im Zwischenzeitraum zu einer Behandlung mit sog. Reizkonfrontation und Reaktionsmanagement bereiterklärt, bei der sie sich stufenweise mit den individuell angstauslösenden Situationen auseinandersetzten, ohne ihren Impulsen zur Zwangausübung nachzugehen. Außerdem fand eine kritische Auseinandersetzung mit den Zwangsinhalten statt, um eine neue Sichtweise der persönlichen Situation zu ermöglichen.
Aus den gewonnenen Erkenntnissen ergeben sich weitere interessante Fragen. Was ist es, das zu einer Normalisierung der geistigen Leistungsfähigkeit führte? Verhilft Verhaltenstherapie möglicherweise generell dazu, dass man sich flexibler auf geistige Anforderungen einstellen kann, weil man Dinge aus einer anderen Perspektive heraus betrachten kann? Oder finden die geistigen Verbesserungen eher auf indirektem Wege als Folge eines veränderten Hirnstoffwechsels statt? Künftige Untersuchungen sollen dieses spannende Gebiet noch weiter beleuchten.